Das am häufigsten auftretende Engpasssyndrom eines peripheren Nerven ist das Karpaltunnelsyndrom, das erstmals 1854 von Paget beschrieben wurde [6, 19]. Die Ursache für die Schädigung des N. medianus liegt in einer anhaltenden Druckschädigung im Karpaltunnel. Dadurch werden neben dem N. medianus auch die Mm. flexor digitorum superficialis, profundus und flexor pollicis longus beeinträchtigt.
Inzidenz und Prävalenz
Die Inzidenz des KTS liegt bei ca. 3 Fällen pro 1000 Einwohnern [19]. In einer südschwedischen Kohorte gab es für klinisch und elektrophysiologisch gesicherte KTS eine Prävalenz von etwa 2,7 % [6]. Frauen sind drei- bis viermal häufiger betroffen und das Risiko ist in Berufsgruppen mit häufiger Belastung der Handgelenke erhöht (z. B. Reinigungskräfte, Gärtner, Schlosser usw.). Zwischen dem 40. und 60. Lebensjahr ist die Prävalenz am höchsten. Allerdings können auch jüngere Erwachsene und Kinder, wie während der Schwangerschaft (häufig im dritten Trimenon) oder im Kindesalter bei Stoffwechselerkrankungen wie Mukopolysaccharidose, betroffen sein. Das KTS tritt nicht selten beidseits auf, wobei die dominante Hand häufiger betroffen.
Ursachen
Distale Radiusfrakturen, lokale Raumforderungen (z. B. Ganglien), Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises und Stoffwechselstörungen können in seltenen Fällen zu einem KTS führen. Assoziationen bestehen zwischen KTS und dialysepflichtiger Niereninsuffizienz, Diabetes mellitus und einem erhöhten Body-Mass-Index (BMI) [11, 14]. Ein weiterer wichtiger Risikofaktor ist die Schwangerschaft. Im dritten Trimenon zeigen bis zu 40 % der Schwangeren elektrophysiologische Zeichen eines KTS [29]. Langfristige Druckerhöhungen im Karpaltunnel, die unter anderem durch ödematöse Schwellungen der Synovialis verursacht werden, sind für die Pathogenese des KTS von entscheidender Bedeutung [10]. Dadurch entsteht eine Ischämie im Epi- und Perineurium des N. medianus mit Ödembildung und fokalen Demyelinisierungen, die hauptsächlich die kräftigen markhaltigen Fasern betreffen [17]. Im Laufe der Zeit kann es zu einer axonalen Degeneration kommen.
Diagnostik
Anamnese und klinische Untersuchung sind entscheidend für die Diagnose eines Karpaltunnelsyndroms. Die elektrophysiologische Untersuchung kann die klinische Diagnose bestätigen und die reduzierte Nervenleitgeschwindigkeit des N. medianus nachweisen. Bestimmt wird hierbei die distale-motorische Latenz des N. medianus im Karpaltunnel. Ein Wert von > 4,2 ms ist pathologisch (Distanz zwischen Reiz- und Ableitelektrode 6,5 cm) [1]. Pathologische Messergebnisse sind bei fehlender passender Klinik keine OP-Indikation, sollten aber im Verlauf kontrolliert werden [5, 13]. Umgekehrt kann die Dekompression bei normaler Nervenleitgeschwindigkeit für Patienten mit typischer Anamnese und klinischem Befunden eines Karpaltunnelsyndroms von Vorteil sein [9, 16].
Konservative Behandlung
Eine konservative Behandlung ist empfohlen, wenn die Beschwerden gering sind. Die Symptome können ggf. durch die folgenden Maßnahmen verringert werden [2, 3, 4, 5, 15]:
- Ergotherapie: manuelle Techniken, thermische Anwendungen und Sensibilitätstraining.
- Handgelenksschiene nachts zur Symptomlinderung
- orales Kortikoidpräparat
- perineurale Infiltration einer Kortikoid-Kristallsuspension unter neurosonografischer Kontrolle
Bei erfolgloser konservativer Behandlung sowie Vorliegen von sensiblen oder motorischen Störungen ist die operative Behandlung indiziert [19].
Operative Behandlung
Indikationen
Schmerzhafte Parästhesien sowie anhaltende sensible oder motorische Ausfälle, wie der Verlust der Abduktions- und Oppositionskraft des Daumens, sind Indikationen für eine Operation [5]. Der elektrophysiologische Nachweis der reduzierten Nervenleitgeschwindigkeit des N. medianus bestätigt die klinische Diagnose und erleichtert die Indikationsstellung. Vor der elektiven Karpaltunneloperation wird die Messung der Nervenleitgeschwindigkeit generell empfohlen[5]. Bei einem akuten Karpaltunnelsyndrom, z. B. infolge einer distalen Radiusfraktur, ist eine notfallmäßige Dekompression des Karpaltunnels ohne elektrophysiologische Untersuchung erforderlich.
Eine mehrtägige postoperative Ruhigstellung in einer Handgelenkschiene in 20° Dorsalextension des Handgelenks ist optional. Studien ergaben keinen Vorteil für die Ruhigstellung [18].
Etwa 300.000 Eingriffe bei Karpaltunnelsyndrom werden jedes Jahr in Deutschland durchgeführt. Die Dekompression des Karpaltunnels kann durch einen Standardzugang, über eine oder zwei Mini-Inzisionen oder endoskopisch durchgeführt werden [5, 8, 23, 30]. Mini-Inzisionen erhöhen die Gefahr einer inkompletten Retinakulumspaltung und iatrogener Läsionen des N. medianus und N. ulnaris [5].
Die endoskopische Dekompression des N. medianus führt aufgrund der kleineren Hautschnitte zu weniger postoperativen Narbenschmerzen als die offene Karpaldachspaltung. Insgesamt sind die Langzeitergebnisse bei beiden Methoden ähnlich [26]. Das operative Risiko bei endoskopischen Verfahren scheint jedoch deutlich höher zu sein [7].
Die offene Dekompression ist weiterhin die Standardmethode, da eine mögliche schnellere Belastbarkeit und geringere Narbenschmerzen nicht das operative Risiko für iatrogene Nervenläsionen und die höheren Kosten bei endoskopischen Verfahren rechtfertigen [13, 26].
Vergleich der KTS-Operationstechniken
Technik | Merkmale | Risiken |
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Offene Operation |
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Offene Operation mit Miniinzision |
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Endoskopische Operation, monoportal (Agee-Technik) |
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Endoskopische Operation, biportal (Chow-Technik) |
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Quelle: Gelderblom, M., Antoniadis, G. Diagnostik und Therapie des Karpaltunnelsyndroms. InFo Neurologie 24, 32–43 (2022).
Vorteile der offenen Standard-Operation
- Geringeres Risiko für eine inkomplette Retinakulumspaltung.
- Geringeres Risiko für iatrogene Läsionen von N. medianus und N. ulnaris.
- Probleme Inspektion des OP-Situs
- Problemlose Synovektomie der Beugesehnen (z. B. bei rheumatischen Erkrankungen), Ganglionexstirpation innerhalb Karpaltunnel etc.
- Falls erforderlich Darstellung und Dekompression des motorischen Asts des N. medianus
Nachteile der offenen Standard-Operation
- Narbenschmerzen im Zugangsbereich durch Läsionen von Hautnervenästen [22].
- Postoperative Kraftminderung der Hand bei manuell tätigen Patienten, möglicherweise aufgrund des Verlusts des Retinaculum flexorum, eines wichtigen Bestandteils des Pulley-Systems der Fingerbeugesehnen, sowie einer postoperativen Ausweitung des transversalen knöchernen karpalen Bogens (Canalis carpi), die in der Literatur diskutiert wurde [24].
Komplikationen
- Verletzung des Ramus palmaris des N. medianus: mikrochirurgische Koaptation [21].
- Verletzung des motorischen Astes des N. medianus: mikrochirurgische Koaptation. Bei ausbleibender Re-Innervation der vom N. medianus innervierten Muskulatur im Verlauf ggf. motorische Ersatzoperation [28].
- Postoperativ persistierendes Karpaltunnelsyndrom aufgrund einer inkompletten Spaltung des Retinaculum flexorum: Revision mit kompletter Dekompression [5].
- Eröffnung der Loge de Guyon mit Gefährdung des ulnaren Gefäß‑/Nervenbündels: strikt senkrechte Präparation vom oben beschriebenen Hautschnitt in die Tiefe in Richtung auf das Retinakulum.
Die KTS-Operation hat eine geringe Komplikationsrate. Nachblutungen oder Wundinfektionen liegen weit unter 1 %. Bei erfahrenen Operateuren sind Nervenverletzungen selten, in der Lernphase bei endoskopischen Eingriffen können sie häufiger auftreten. Eine Umfrage unter amerikanischen Chirurgen (6.833 Eingriffe) ergab, dass die Komplikationsrate bei offener Technik 0,8 % betrug und bei endoskopisch operierten Patienten 1,6 % [25]. Bei einer Literaturrecherche von 9.516 Operationen berichtete Boeckstyns von einer irreversiblen Nervenläsion von 0,3 % bei endoskopischen und 0,2 % bei offenen Operationen [7].
Postoperativ können Schmerzen in der Handinnenfläche auftreten, die als "pillar pain" bekannt sind. Ursächlich ist möglicherweise das Auseinanderklaffen des distalen Endes des Retinaculum flexorum nach der Spaltung. Die Beschwerden können sowohl nach offenen als auch nach endoskopischen Operationen auftreten und verschwinden normalerweise nach sechs Monaten. Bei lege artis durchgeführten Operationen ist ein komplexes regionales Schmerzsyndrom (CRPS I) äußerst selten [2].
Ergebnisse
Haupt et al. untersuchten 60 Patienten mit Karpaltunnelsyndrom nach Retinakulumspaltung mit einer mittleren Nachuntersuchungszeit von 5,5 Jahren (2 bis 11 Jahre). In 26 % der Fälle zeigte sich ein vollständiger Rückgang der Beschwerden und eine Normalisierung der elektrophysiologischen Parameter. In 45 % der Fälle ergab sich eine deutliche Verbesserung von Schmerz, Funktion und elektrophysiologischen Parametern, während sich bei 15 % der Fälle nur eine geringe Verbesserung zeigte, bei 7 % kam es zu keiner Verbesserung und bei 7 % kam es zu einer klinischen Verschlechterung. Dementsprechend verbesserten sich in 86 % der Fälle die klinischen und elektrophysiologischen Befunde postoperativ in unterschiedlichem Ausmaß [12]. In einer retrospektiven Studie untersuchen Mühlau et al. 157 Personen mit einem elektrophysiologisch gesicherten Karpaltunnelsyndrom. Eine deutliche Verbesserung wurde bei 86 % der 85 operativ behandelten Patienten festgestellt. Jedoch verbesserten sich die Beschwerden auch bei 32 % der nicht operierten Patienten deutlich [20].
Vergleich operative und konservative Behandlungen
In einer Metaanalyse von Verdugo et al. wurden vier randomisierte kontrollierte Studien mit insgesamt 317 Patienten untersucht, die das Outcome der Operation und der konservativen Therapie beim Karpaltunnelsyndrom verglichen. Nach 3 und 6 Monaten sowie nach 1 Jahr zeigten sich für das klinische Outcome und die elektrophysiologischen Messungen Vorteile der operativen Therapie im Vergleich zu konservativen Maßnahmen [27].