Kritische Extremitätenischämie
Die Extremitätenischämie kann in eine akute und eine chronische Form unterteilt werden. Die Diagnostik der akuten Ischämie muss umgehend erfolgen, eine sofortige Revaskularisation ist in den meisten Fällen notwendig. Die chronische kritische Extremitätenischämie ist die schwerste Form der peripheren arteriellen Verschlusskrankheit (AVK). Sie ist gekennzeichnet durch Ruheschmerzen beziehungsweise Nekrosen oder Gangrän.
Die akute Extremitätenischämie („acute limb ischemia“, ALI) stellt eine akut aufgetretene Minderperfusion der Extremität dar, die nicht älter als 2 Wochen ist. Ursächlich sind meistens Embolisationen oder lokale Thrombosen auf dem Boden einer vorbestehenden Pathologie wie der PAVK.
Die chronische Extremitätenischämie („chronical limb ischemia“, CLI) bezeichnet einen Ruheschmerz bzw. ischämische Hautläsionen wie Ulzera oder Gangrän (Fontaine Stadium III und IV bzw. Rutherford-Kategorien 4–6). Sie hat eine hohe Assoziation mit zerebrovaskulären und kardiovaskulären Ereignissen. Von einer Chronizität wird bei einer Beschwerdesymptomatik über 2 Wochen gesprochen.
TASC II-Kriterien
Das Konsensusdokument TASC II (Transatlantic Inter-Society Consensus for the Management of Peripheral Arterial Disease) beschäftigt sich mit Aspekten der Revaskularisation bei der PAVK [1]. Nach den TASC-Kriterien lassen sich in Abhängigkeit der lokalen Verschluss-/Stenosenlänge therapeutische Behandlungsoptionen ableiten. Die Länge der Stenose und deren Lokalisationsregionen entscheidet über die Therapie: endovaskulär oder offen gefäßchirurgisch.
TASC-Kriterien aortoiliakaler Gefäßverschlüsse:
Typen | Morphologie | Therapieprinzip |
A | Fokale Stenosen der A. iliaca communis oder A. iliaca externa <3 cm, uni- oder bilateral | endovaskulär |
B | Fokale Stenosen 3–10 cm lang und/oder unilateraler Verschluss der A. iliaca communis | endovaskulär |
C | Bilaterale Stenosen der A. iliaca communis, 5–10 cm bzw. unilateraler vollständiger Verschluss der A. iliaca externa oder bilaterale Verschlüsse der A. iliaca communis | offene Rekonstruktion |
D | Diffuse stenotische Veränderungen der gesamten Iliakalachse bzw. unilateraler Verschluss der A. iliaca communis und externa oder aber bilaterale Verschlüsse der A. iliaca externa | offene Rekonstruktion |
TASC-Kriterien femoropoplitealer Gefäßverschlüsse:
Typen | Morphologie | Therapieprinzip |
A | Einzelstenose <5 cm Länge, nicht am Beginn der AFS oder in distaler A. poplitea, Einzelverschluss <3 cm Länge (nicht am Beginn der AFS oder A. poplitea) | endovaskulär |
B | Einzelstenose 5–10 cm Länge, nicht in distaler A. poplitea, Einzelverschluss 3–10 cm Länge, nicht in distaler A. poplitea, verkalkte Stenose <5 cm Länge, multiple Läsionen <3 cm Länge | endovaskulär |
C | Einzelverschluss 3–10 cm Länge bis distale A. poplitea, multiple fokale Läsionen 3–5 cm Länge ohne/mit Verkalkung, Einzelstenose/Verschluss >10 cm Länge | offene Rekonstruktion |
D | Komplettverschluss AFC und/oder AFS, Komplettverschluss A. poplitea und Trifurkation, schwere diffuse Erkrankung | offene Rekonstruktion |
Für die morphologische Charakterisierung in den infrapoplitealen Segmenten existieren keine Empfehlungen.
Leitlinien
In der S3-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Angiologie/Gesellschaft für Gefäßmedizin zur Diagnostik, Therapie und Nachsorge der AVK wird zur CLI u. a. angemerkt [2]:
- Oberstes Ziel bei der CLI ist eine schnelle und ausreichende Revaskularisation unabhängig von den eingesetzten Behandlungstechniken.
- Die Beseitigung von Einstromhindernissen hat bei Mehretagenläsionen Priorität vor der Behandlung nachgeschalteter Läsionen.
- Bei der CLI sollen Einstrom- und nachfolgend Ausstromläsionen soweit möglich durch eine interventionelle Therapie behandelt werden.
- Eine Kombination von offen-operativen Verfahren und intraoperativer endovaskulärer Behandlung ist bei gleichzeitigem Vorliegen hochgradiger Stenosen oder Verschlüsse der A. femoralis communis, der A. femoralis profunda und Läsionen in der aortoiliakalen Einstrombahn und /oder der femoropoplitealen Ausstrombahn sinnvoll (Hybrideingriff).
- Eine endovaskuläre Behandlung sollte präferiert werden, wenn der angiomorphologische Befund erwarten lässt, dass im Hinblick auf den technischen Erfolg ein der offen chirurgischen Therapie vergleichbares Ergebnis erzielt wird.
- Endovaskuläre Interventionen sollten bevorzugt werden, wenn infolge Komorbidität für den vergleichbaren chirurgischen Eingriff ein erhöhtes Operationsrisiko vorliegt.
- Endovaskuläre Verfahren sollten bei der Behandlung femoropoplitealer Läsionen primär durchgeführt werden. Bei der TASC-D-Situation ohne erhöhtes OP-Risiko, nicht nennenswert eingeschränkter Lebenswertartung und Verfügbarkeit einer autologen Vene sollten Bypass-Verfahren bevorzugt werden.
- Bei Läsionen der A. poplitea sollte primär eine Ballonangioplastie erfolgen.
- Bei Patienten mit kritischer Ischämie sollten infrapopliteale Gefäßläsionen primär endovaskulär behandelt werden. Gefäßchirurgische Verfahren können erwogen werden, sofern das OP-Risiko vertretbar und eine autologe Venen zur Verfügung steht.
Die Empfehlungen der European Society of Cardiology (ESC) in Zusammenarbeit mit der European Society for Vascular Surgery (ESVS) für Patienten mit CI und CLI beinhalten u.a. [3]:
1. Revaskularisation aortoiliakaler Verschlussläsionen
- Bei kurzen Läsionen < 5 cm wird eine endovaskuläre Erststrategie empfohlen.
- Bei aortoiliakalen Verschlüssen sollte der aorto-(bi)-femorale Bypass in Betracht gezogen werden, sofern die Patienten chirurgisch fit sind.
- Bei Patienten mit schwerer Komorbidität sollte bei langstreckigen und/oder bilateralen Verschlüssen die endovaskuläre Strategie erwogen werden.
- Bei aortoiliakalen Läsionen kann bei entsprechender Expertise eine endovaskuläre Intervention als Erstmaßnahme erfolgen, sofern eine nachfolgende operative Option nicht beeinträchtigt wird.
- Bei einem aortalen Verschluss, der sich bis zu den Nierenarterien ausdehnt, sollte die offene Intervention erwogen werden, sofern der Patient fit ist.
- Eine Hybridprozedur – iliakales Stenting und femorale Endarteriektomie oder Bypass kombiniert – kommt bei iliofemoralen Verschlüssen in Betracht.
- Bei fehlenden Alternativen zur Revaskularisation kann ein extraanatomischer Bypass erwogen werden.
- Die primäre Stentimplantation sollte eher als ein behelfsmäßiges Stenting in Betracht gezogen werden.
2. Revaskularisation femoropoplitealer Verschlussläsionen
- Die endovaskuläre Erststrategie wird für kurze Verschlussläsionen (< 25 cm) empfohlen.
- Ein primäres Stenting sowie medikamentenbeschichtete Ballons können bei kurzstreckigen Läsionen (< 25 cm) in Betracht gezogen werden.
- Medikamentenbeschichtete Ballons können für die Behandlung der In-Stent-Restenose in Betracht gezogen werden.
- Die Bypass-Chirurgie ist bei langen (≥ 25 cm) Läsionen der A. femoralis superficialis indiziert, sofern die Patienten kein hohes Risiko für einen operativen Eingriff haben, eine autologe Venen zur Verfügung steht und die Lebenserwartung über 2 Jahre beträgt. Für Patienten, die nicht fit genug sind, kommt die endovaskuläre Therapie in Betracht.
- Für den femoropoplitealen Bypass ist die autologe Saphenavene das Bypass-Material der Wahl.
Die Leitlinien des American College of Cardiology (ACC) und der American Heart Association/AHA) geben bei der CLI u.a. folgende Empfehlungen [4]:
- Bei CLI-Patienten sollte sofern möglich eine Revaskularisation durchgeführt werden, um den Gewebeverlust zu minimieren.
- Vor einer Amputation sollte ein interdisziplinäres Team die Möglichkeiten für eine Revaskularisation beurteilen.
1. Endovaskuläre Revaskularisation
- Endovaskuläre Interventionen werden empfohlen, um die Perfusion zum Fuß der Patienten mit nicht-heilenden Wunden oder Gangrän wiederherzustellen. Bei ischämischem Ruheschmerz wird ein stufenweises Vorgehen bei endovaskulären Prozeduren empfohlen.
- Eine Angiosom-ausgerichtete endovaskuläre Behandlung kann bei Patienten mit CLI und nicht-heilenden Wunden oder Gangrän in Betracht gezogen werden.
2. Chirurgische Revaskularisation
- Ist ein Bypass zu den poplitealen oder infrapoplitealen Arterien vorgesehen, sollte dieser mit einer autologen Vene durchgeführt werden.
- Chirurgische Prozeduren werden empfohlen, um einen Blutfluss zum Fuß bei Patienten mit nichtheilenden Wunden oder Gangrän wiederherzustellen.
- Versagt die endovaskuläre Behandlung und steht keine geeignete autologe Vene zur Verfügung, kann ersatzweise eine Kunststoffprothese verwendet werden.
- Bei Patienten mit ischämischem Ruheschmerz wird ein stufenweises Vorgehen bei chirurgischen Interventionen empfohlen.
Ergebnisse
1. Perkutane Intervention vs. Bypass-Chirurgie bei CLI
Die bis dato größte Metaanalyse zu diesem Thema umfasst über 45 Studien mit insgesamt knapp 21.000 Patienten und stammt aus dem Jahr 2018 [5]. Der Vergleich der perkutanen vaskulären Intervention (ER) mit der offenen Bypass-Chirurgie (OR) ergab:
- ER reduzierte das Risiko der 30-Tage-Sterblichkeit, größerer unerwünschter kardio- und zerebrovaskulärer Ereignisse und Wundinfektionen, erhöhte jedoch das Risiko für Langzeitsterblichkeit und Versagen der primären Offenheit.
- ER schnitt im Vergleich zu autologen Bypässen bei der sekundären Offenheit ebenfalls schlechter ab und führte im Langzeitverlauf häufiger zu Amputationen.
Die Autoren der Metaanalyse schlussfolgerten, dass OR für Patienten in gutem AZ und relativ langer Lebenserwartung die bessere Wahl darstellt, insbesondere, wenn autologes Bypass-Material zur Verfügung steht.
Ein Cochrane Review aus 2017 untersuchte die Wirksamkeit der Bypass-Chirurgie bei der chronischen Ischämie im Vergleich zu anderen Interventionen (PTA, Endarteriektomie, Thrombendarteriektomie, Thrombolyse, Übungstraining und Rückenmarksstimulation)[6]:
- Im Vergleich Bypass vs. PTA zeigten die Bypässe häufiger frühe, nicht-thrombotische Komplikationen, waren aber mit höheren technischen Erfolgsrate assoziiert.
- Ein Jahr nach Intervention war die primäre Offenheit in der Bypass-Gruppe höher als nach PTA, vier Jahre später fand sich kein Unterschied mehr.
- Hinsichtlich der Sterblichkeit, der klinischen Verbesserung, Amputationsraten und Reinterventionsraten konnten keine Unterschiede zwischen Bypass- und PTA-Gruppe identifiziert werden.
Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass nur begrenzte Evidenz hoher Qualität hinsichtlich der Effektivität der Bypass-Chirurgie im Vergleich zu anderen Behandlungsverfahren besteht.
2. Geschlechtsspezifische Ergebnisunterschiede bei Revaskularisation der unteren Extremität
Eine systematische Übersicht mit Metaanalyse untersuchte den Einfluss des Geschlechts auf die Ergebnisse der Revaskularisation der unteren Extremität [7]. Es wurden 40 Studien berücksichtigt, 15 Studien berichteten über Ergebnisse nach OR, 19 nach ER, die übrigen beinhalteten gemischte Prozeduren:
- Frauen hatten im Vergleich zu Männern eine signifikant höhere 30-Tage-Sterblichkeit, Amputationsrate, frühe Graft-Thrombose, Embolisationsrate, Komplikationen am Ort des Zugangs sowie vermehrt allgemeine Komplikationen (kardiopulmonal, zerebral).
- Keine Unterschiede fanden sich hinsichtlich Reinterventionen und renaler Komplikationen.
- Bei Analyse der Ergebnisse bezüglich OR und ER blieb das erhöhte Risiko für postoperative Sterblichkeit und Komplikationen bei Frauen bestehen. Im Langzeitergebnis wurden aber keine signifikanten Unterschiede zwischen Männern und Frauen gefunden.
Als Gründe für die ungünstigeren Ergebnisse bei Frauen führen die Autoren u.a. das Patientenalter an (Frauen waren bei der Intervention älter als die Männer) und eine im Vergleich zu Männern Unterversorgung der Frauen mit Thrombozytenaggregationshemmern, Statinen und kardiovaskulärer Medikation.
3. Angiosom-ausgerichtete Revaskularisation bei CLI
Angiosome sind Haut- und Gewebeareale, die von sogenannten Quellarterien versorgt werden. Am menschlichen Fuß existieren 6 solcher Arterien (A. plantaris medialis, - lateralis, kalkanearer Ast der A. tibialis posterior, lateraler und medialer Ast der A. fibularis, A. dorsalis pedis). Die Wundheilungsrate soll durch direkte Revaskularisation, d. h. durch Anlage eines Bypasses auf ein das Angiosom direkt versorgende Segment, verbessert werden.
Es existiert eine systematische Übersicht mit Metaanalyse zum Thema Angiosom-ausgerichteter Revaskularisation bei CLI aus 2017, die knapp 4000 Patienten umfasst [8]. Verglichen mit einer indirekten Revaskularisation (IR) verbesserte die direkte Revaskularisation (DR) signifikant die Wundheilung, Majoramputationsrate und das amputationsfreie Überleben. In einer Sensitivitätsanalyse ging die Signifikanz für die Majoramputationsrate in der Bypass-Chirurgie allerdings verloren und auch hinsichtlich des Gesamtüberlebens fanden sich zwischen IR und DR keine Unterschiede.
Die Autoren schlussfolgerten, dass die Angiosom-Theorie durch ihre Analyse zumindest für die endovaskuläre Behandlung unterstützt wird. Die Ergebnisse zwischen ER und IR sind ähnlich, sobald Kollateralgefäße vorhanden sind, sodass am ehesten Patienten ohne Kollateralen von der DR profitieren, weshalb das Angiosom-Konzept für die Bypass-Chirurgie weniger sinnvoll erscheint.