Leistenhernienchirurgie – tailored approach
Die Leitlinie der HerniaSurge-Gruppe, ein Zusammenschluss aller internationalen Herniengesellschaften, gibt den momentanen wissenschaftlichen Stand in der Chirurgie der Leistenhernie wieder [1]. Sie ermöglicht den differenzierten Einsatz der empfohlenen Operationstechniken in Abhängigkeit von den klinischen Gegebenheiten, die der Patient mitbringt [2, 3, 4]. Dieses differenzierte Vorgehen wird als „tailored approach“ bezeichnet.
Indikation zur Operation bei Männern
Bei Männern mit asymptomatischen oder wenig symptomatischen Leistenhernien kommt das Konzept des „waitful watching“ in Betracht, da das Risiko einer Inkarzeration gering ist. Die Anzahl derjenigen Männer, die im Laufe der Zeit Symptome bzw. Schmerzen entwickeln, ist relativ hoch, so dass sie dann einer Operation zugeführt werden sollten. Bei Männern mit symptomatischen Leistenhernien findet das Konzept des „waitful watching“ keine Anwendung, da das Risiko einer Inkarzeration mangels Studien nicht abgeschätzt werden kann.
Indikationen zur Operation bei Frauen
Bei Frauen treten Femoralhernien häufiger auf als bei Männern. Da mit keinem diagnostischen Verfahren sicher zwischen Leisten- und Femoralhernien unterschieden werden kann und Femoralhernien häufiger inkarzerieren als Leistenhernien, sollte bei Frauen die Indikation zur operativen Versorgung ihrer Hernie zeitnahe erfolgen.
Versorgung einer primären unilateralen Leistenhernie beim Mann
Für die operative Versorgung werden netzbasierte Techniken empfohlen. Ob netzfreie Techniken bei jungen Männern mit kleiner lateraler Leistenhernie eine sichere Alternative darstellen ist mangels Studien nicht beurteilbar.
Versorgung einer primären unilateralen Leistenhernie bei der Frau
Bei anterioren Netzverfahren (z. B. Lichtenstein) und netzfreien Verfahren wird in rund 40 % der Rezidivoperationen ein femorales Rezidiv gefunden. Eine mögliche Erklärung ist, dass bei den anterioren Verfahren die Faszia transversalis nicht eröffnet wird (Ausnahme: Shouldice) und somit keine Exploration des präperitonealen Raums erfolgt. Daher empfehlen die Leitlinien bei der Frau die posterioren Verfahren mit Exploration der femoralen Bruchlücke, nämlich die laparoskopischen Netzverfahren TEP und TAPP.
Versorgung einer primären unilateralen Leistenhernie beim Mann mit einem offenen anterioren Netzverfahren (Lichtenstein, PHS, Plug und Patch)
Die aktuelle Leitlinie empfiehlt zur offenen anterioren Reparation das Verfahren nach Lichtenstein. PHS- und Plug und Patch-Verfahren werden trotz gleichwertiger Ergebnisse nicht mehr empfohlen, da eine exzessive Menge an Fremdmaterial eingebracht wird und die Netzprodukte im Vergleich zum einfachen Flachnetz kostenintensiver sind. Gegen PHS und Plug und Patch spricht auch das Einbringen von Netzmaterial in die anteriore und posteriore Schicht der Leiste, was die Versorgung von Rezidivhernien problematisch macht.
Versorgung einer primären unilateralen Leistenhernie beim Mann mit einem offenen präperitonealen Verfahren (TIPP, TREPP, Onstep, Ugahary) versus Lichtenstein-Technik
Die Datenlage zum Vergleich der offenen präperitonealen Verfahren versus Lichtenstein-Technik ist dünn. Die offenen präperitonealen Verfahren können daher zur Versorgung der primären Leistenhernie beim Mann zum jetzigen Zeitpunkt nicht empfohlen werden. Außerdem sind die Netzmaterialen kostenintensiver als das einfache Flachnetz für die Lichtenstein-Versorgung.
Versorgung einer primären unilateralen Leistenhernie beim Mann mit Lichtenstein-Technik versus laparoskopische Techniken
Verfügt der Operateur über entsprechende Expertise und steht das technische Equipment zur Verfügung, empfiehlt die Leitlinie eine laparoskopische Technik zur Versorgung der primären männlichen Leistenhernie. Die laparoskopischen Techniken und das Lichtenstein-Verfahren haben vergleichbare Rezidiv- und Komplikationsraten. Minimal-invasive Verfahren haben den Vorteil einer schnelleren Rekonvaleszenz aufgrund niedrigerer postoperativer Beschwerden. Auch chronische Schmerzen treten bei den MIC-Verfahren seltener auf. Im Vergleich zur Lichtenstein-Technik weisen laparoskopische Verfahren jedoch eine längere Lernkurve auf. Insbesondere zu Beginn der Trainingsphase können seltene, aber gravierende Komplikationen auftreten.
Versorgung einer primären unilateralen Leistenhernie beim Mann: TEP versus TAPP
TEP und TAPP weisen vergleichbare Operationszeiten, Komplikationsraten, chronische Schmerzraten und Rezidivraten auf. Bei entsprechender Expertise treten gravierende Komplikationen sehr selten auf, bei der TAPP mehr Organverletzungen und bei der TEP mehr Gefäßverletzungen und Konversionen zum offenen Verfahren. Die Lernkurve der TEP ist länger als die der TAPP. Letztlich hängt die Wahl des Verfahrens - TEP oder TAPP - von Ausbildung, Fähigkeiten und Erfahrungen des Operateurs ab.
Versorgung einer primären bilateralen Leistenhernie bei der Frau und beim Mann
Auf der Basis zahlreicher Studien [5, 6, 7, 8] empfiehlt die Leitlinie zur Versorgung bilateraler Leistenhernien beim Mann und bei der Frau die laparoskopischen Verfahren.
Versorgung einer Rezidivhernie bei der Frau und beim Mann
Es wird empfohlen, Rezidive nach vorausgegangenen anterioren Naht - und Netzverfahren mit einer laparoskopischen Technik mit Operation in der noch nicht betroffenen anatomischen Schicht zu versorgen. Umgekehrt sollten Rezidive nach minimal-invasiver Voroperation durch ein anteriores Verfahren in Lichtenstein-Technik versorgt werden.
Versorgung einer inkarzerierten Leistenhernie bei der Frau und beim Mann
Für die Behandlung inkarzerierter Leistenhernie werden unterschiedliche Empfehlungen ausgesprochen. Aufgrund fehlender Evidenz für ein optimales Vorgehen, spricht sich die HerniaSurge-Gruppe für einen „tailored approach“ aus. Die International Endohernia Society hingegen empfiehlt zunächst eine explorative Laparoskopie [9, 10], damit der Bruchsackinhalt, ggf. nach kranialer Inzision des Bruchrings, reponiert werden kann. In 90 % der Fälle erholt sich der Darm, in den verbleibenden 10 % ist eine Darmresektion indiziert. Ist keine Darmresektion erforderlich, kann eine TEP oder TAPP in einem sauberen OP-Gebiet durchgeführt werden. Ist eine Darmresektion erforderlich und das OP-Gebiet ist kontaminiert, kann die gleichzeitige Versorgung der Hernie in Lichtenstein-Technik erfolgen oder aber sie wird zweizeitig bzw. zu einem späteren Zeitpunkt versorgt.
Antibiotiakprophylaxe in der Leistenhernienchirurgie
Die HerniaSurge-Gruppe empfiehlt für die laparoskopischen Techniken der Leistenhernienversorgung keine Antibiotikaprophylaxe. Bei jedem Patienten mit offener Versorgung und einem Netz sollte hingegen eine Prophylaxe durchgeführt werden.
Netze in der Leistenhernienchirurgie
Nach den Empfehlungen der HerniaSurge-Gruppe kommen zur netzbasierten Versorgung der Leistenhernie nur Flachnetze zum Einsatz (Lichtenstein, TEP, TAPP). Zur Verfügung stehen schwer- und leichtgewichtige sowie klein- und großporige Netze.
Der Einfluss von Netzgewichten auf das Ergebnis der Leistenhernienchirurgie ist nicht eindeutig zu ermitteln, was bereits daran scheitert, dass keine eindeutige Definition von leicht- und schwergewichtigen Netzen existiert. Metanalysen und RCTs konnten nicht eindeutig belegen, dass die Versorgung mit leichtgewichtigen Netzen zu einem besseren postoperativen Ergebnis führt. Allerdings führt die Verwendung von leichtgewichtigen Netzen nicht zu einer Erhöhung der Rezidivrate.
Unter der Vorstellung, möglichst wenig Fremdmaterial einzubringen, können aus der Sicht der HerniaSurge-Gruppe leichtgewichtige Netze (die in der Regel auch großporig sind) zur Versorgung der Leistenhernie verwendet werden.
Netzfixierung in der Leistenhernienchirurgie
In der Literatur findet sich für die offene anteriore Netzversorgung für die verschiedenen Netzfixierungstechniken - Naht, Kleber, Selbstfixierung – kein Unterschied hinsichtlich Rezidiv- und Wundinfektionsrate. Die Netzfixierung mit Kleber (Fibrin oder Cyanoacrylat) kann möglicherweise die perioperativen und chronischen Schmerzen reduzieren. Die HerniaSurge-Gruppe empfiehlt daher trotz des niedrigen Evidenz-Levels in der offenen netzbasierten Technik die atraumatische Netzfixierung. Bei der TEP ist in nahezu allen Fällen eine Netzfixierung entbehrlich. Problematisch sind große mediale Hernien, weshalb in diesen Fällen bei TEP und TAPP eine Fixierung empfohlen wird, ggf. auch mit Tackern.